Ölmarktbericht Mai, 2022

Die Totenglocke für die großen Ölkonzerne (BP, Shell, Exxon usw.) ist schon oft geläutet worden. In den 70er Jahren ging es darum, von der OPEC (Organisation erdölexportierender Länder) in den Hintergrund gedrängt zu werden. Die 90er Jahre brachten „Peak Oil“ und die Erschöpfung der Ölvorräte. Seit dem Jahr 2000 rückt die Unvereinbarkeit der Erdölförderung mit den dringenden Erfordernissen des Umweltschutzes in den Mittelpunkt, während 2020 der Covid und die Ölpreise in den negativen Bereich fallen. Dennoch haben die großen Ölkonzerne immer überlebt und immer wieder enorme Gewinne eingefahren, für die sie zur Strafe für ihren Erfolg (und ihre Widerstandsfähigkeit) mit außerordentlich hohen Steuern (Windfall Taxes) belastet werden!

Die großen Ölgesellschaften des Jahres 2022 stehen an einem Scheideweg und haben zwei sehr unterschiedliche Wege in die Zukunft vor sich. Der erste Weg besteht darin, die Öl- und Gasexploration beizubehalten – und möglicherweise zu steigern. Es sieht so aus, als ob dieser Weg vor allem von den amerikanischen Großkonzernen (Exxon, Chevron) beschritten wird, die sich einer erheblichen Skepsis ihrer Aktionäre gegenüber den Vorzügen eines „grünen“ Ansatzes gegenübersehen und zudem traditionell die effizientesten Betreiber im Explorationssektor sind. Die russische Invasion in der Ukraine hat ihnen vor Augen geführt, dass Öl und Gas nach wie vor die Weltwirtschaft dominieren. Darüber hinaus hat sie die westlichen Regierungen dazu veranlasst, die heimische Öl- und Gasproduktion zu steigern, um nicht von Importen aus unfreundlichen Ländern abhängig zu sein. Diese Unternehmen sind sich auch darüber im Klaren, dass der Verkehrssektor zwar schnell dekarbonisiert werden dürfte (und damit die Ölnachfrage sinkt), dass aber immer noch bis zu 50 % der Ölnachfrage in allen Bereichen von Beton über Kontaktlinsen bis hin zu farbiger Kleidung steckt. In diesen Sektoren wird die Nachfrage nach Öl robust und beständig bleiben.

Einen ganz anderen Ansatz verfolgen die großen europäischen Ölkonzerne (BP, Shell, Total), die sich mit einer ganz anderen Öffentlichkeit und einer umweltbewussteren Aktionärsbasis auseinandersetzen müssen. Diese Unternehmen überschlagen sich jetzt, um zu zeigen, dass sie sich der Dekarbonisierung verschrieben haben, und sowohl BP als auch Shell haben angekündigt, dass sie bis 2050 „Netto-Null“ erreichen wollen. Es gab eine ganze Reihe von Übernahmen, von Wind-, Solar- und Wasserstoffunternehmen bis hin zu Batterieherstellern und Stromtankstellen am Straßenrand. Der Vorstandsvorsitzende von BP hat die britische Regierung sogar aufgefordert, das geplante Verbot von Benzin- und Dieselfahrzeugen (2030) zu beschleunigen – eine bisher undenkbare öffentliche Äußerung des Chefs eines Ölkonzerns.

Es sollte klar sein, dass die europäischen Ölkonzerne nicht gezwungen sind, diesen fortschrittlichen Weg zu gehen. Es gibt keinen gesetzlichen Auftrag, das zu tun, was sie tun, und sie haben viele Aktionäre, die zu dem Schluss kommen könnten, dass ein grüner Weg keine ausreichenden Renditen bringt. Traditionelle Ölgesellschaften haben in der vorgelagerten (Öl- und Gas-) Exploration zwischen 15 und 20 % Rendite erzielt, während Großprojekte im Bereich der erneuerbaren Energien bisher nur etwa 5 bis 10 % eingebracht haben. Die meisten Aktionäre sind an Dividenden aus unmittelbaren Gewinnen interessiert, und diese „Rentabilitätslücke“ könnte dazu führen, dass sich die eher geldgierigen Investoren wieder dem traditionelleren Modus Operandi des US-Sektors zuwenden (den sie verstehen).

Es gibt jedoch zwei wichtige Argumente, die für den „europäischen“ Ansatz sprechen. Das erste ist, dass die historischen Renditen von 15-20 % bei Öl und Gas nicht die gleiche Höhe der Gewinne in der Zukunft garantieren. In der Tat ist es unwahrscheinlich, dass traditionelle Energieprojekte angesichts der verschärften Regulierung und der Konkurrenz durch die allgegenwärtigen erneuerbaren Energien ein so hohes Niveau erreichen werden. Der zweite, eher zynische Punkt ist, dass die europäischen Ölgesellschaften eindeutig ihre Wetten kurzfristig absichern. Niemand wird die Kohlenwasserstoffproduktion einstellen, so dass die Einnahmen aus Öl und Gas noch mindestens 10 Jahre lang anhalten werden. Die Logik dahinter ist, dass nur die ansehnlichen Renditen aus traditionellen Energieprojekten die Art von Geld generieren können, die für massive Re-Investitionen in erneuerbare Energien erforderlich sind. Außerdem hilft es natürlich, nervöse Investoren zu beruhigen…

Welcher Ansatz wird also den Sieg davontragen? Beide Ansätze sind ein ziemliches Glücksspiel. Wenn die Welt in 10 Jahren immer noch enorme Mengen an Öl und Gas verbraucht, dann haben die europäischen Betreiber ihre „Kronjuwelen“ unnötigerweise entsorgt. Ebenso setzen die amerikanischen Produzenten auf den Wert ihrer Ölreserven, die in einer saubereren und grüneren Zukunft vielleicht nie das Licht der Welt erblicken werden. Es erübrigt sich zu sagen, dass es in diesem Kampf wahrscheinlich keine eindeutigen Gewinner und Verlierer geben wird. Die Förderung fossiler Brennstoffe „alter Schule“ wird zweifellos noch mindestens 10 Jahre lang Früchte tragen, während die europäischen Ölkonzerne in einer perfekten Position sind, um von den eindeutigen langfristigen Wachstumschancen zu profitieren, die saubere Energien bieten. Eines ist jedoch sicher: Die düsteren Prognosen für die Zukunft der großen Ölkonzerne sind heute so unangebracht wie eh und je.