Ölmarktbericht Februar, 2022

Ende letzten Jahres sagten wir eine rasche Lösung der Probleme im Zusammenhang mit der Gaspipeline Nord Stream 2 voraus, die sich im Besitz von Gaz-Prom (d. h. Russland) befindet (https://stabilityfromvolatility.co.uk/market-reports/energy-market-report-10-21/ ). Als die Gas-preise außer Kontrolle gerieten, gingen wir davon aus, dass keine europäische Regierung untätig bleiben würde, um die Gasströme nach Europa zu erhöhen. Nun wissen wir jedoch, dass die Leitung (zumindest in absehbarer Zukunft) nicht gebaut wird, da der neu ernannte deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz aufgrund der sich zuspitzenden Lage in der Ukraine ein Veto gegen den Bau eingelegt hat.

Man kann sich vorstellen, dass viele europäische Staats- und Regierungschefs insgeheim gerne grünes Licht für Nord Stream 2 gegeben hätten. Dann könnte das erhöhte Gasangebot die Preise senken und die milliardenschwere Subventionierung von Energierechnungen, die derzeit auf dem ganzen Kontinent stattfindet, beenden. Dies würde auch den angeschlagenen Energieabteilungen, die in einer Krise stecken, in der das Energiewachstum boomt, während die Versorgung ins Stocken gerät, eine Atempause verschaffen – sei es auf der Basis fossiler Brennstoffe oder erneuerbarer Energien.

Es gab jedoch zwei große Hindernisse, die einem grünen Licht für Nord Stream 2 im Wege standen. Das eine waren die USA, die sich zwar mit gewissen Turbulenzen auf ihren eigenen Energiemärkten konfrontiert sehen, aber (was Gas betrifft) weitaus energieautarker sind als Europa. Dies verleiht ihnen eine gewisse Unbekümmertheit im Umgang mit der Nord-Stream-Frage, und ihre Haltung gegenüber der Pipeline ist eindeutig. Sie glauben, dass die Öffnung der Pipeline Russland noch mehr Macht über Europa geben wird. Hinzu kommt ein gesundes Maß an Eigeninteresse, denn selbst grün orientierte Demokraten sind sich des wirtschaftlichen Wertes der US-Flüssigerdgas-Exporte nach Europa bewusst. Diese würden durch jede neue Pipeline, die zusätzliches russisches Gas in das Kernland des Kontinents bringt, verdrängt werden.

Das zweite Hindernis, das dem Bau von Nord Stream 2 im Wege stand, war ebenso unerbittlich wie das erste, aber wesentlich überraschender. Es hat den Anschein, dass Russland im letzten Quartal des vergangenen Jahres begonnen hat, sich von der neuen Pipeline zurückzuziehen, weil es den Wert einer katastrophalen europäischen Energiekrise höher einschätzte als den kommerziellen Nutzen, den die Leitung bot. Man bedenke, dass die aktuellen Gas-preise so hoch sind, dass Russland durch die bestehenden Pipelines mehr verdient als durch die zusätzlichen Mengen, die durch Nord Stream 2 transportiert werden sollen, prognostiziert wurde. Darüber hinaus verfügt Russland aufgrund seiner beneidenswerten geografischen Lage über Gasoptionen im Osten (China) und Süden (Indien), was bedeutet, dass es die (europäischen) Märkte nach eigenem Ermessen aushungern kann. Angesichts des grenzenlosen Gasbedarfs Chinas und Indiens im Vergleich zu einem Europa, das sich mit unangenehmen Fragen, lästiger Politik und Umweltbesessenheit herumschlägt, scheinen die Optionen im Osten und Süden für Putins Russland wesentlich attraktiver zu sein, als Gas über Nord Stream 2 nach Westen zu leiten.

Leider bietet dies mehr als genug Kontext für die aktuelle Ukraine-Krise. Bisher war man da-von ausgegangen, dass Russland, solange es Nord Stream 2 in Betrieb nehmen wollte, nicht in die Ukraine eindringen würde. Doch wenn man in Moskau nun entschieden hat, dass Nord Stream 2 nicht mehr so wichtig ist wie früher, dann sieht die unmittelbare geopolitische Perspektive beunruhigend anders aus. Putin hat auf die globale Energiekrise reagiert und wittert keine bessere Gelegenheit, um die Kontrolle über die Ukraine zu übernehmen, während Europa der Erholung der Rinderbestände und den Lebenshaltungskosten im eigenen Land Vor-rang einräumt. Sicherlich ist das Machiavellismus, aber der russische Führer hat seine Zähne beim KGB geschnitten…

Die Geschichte besteht aus verpassten Gelegenheiten, und davon gibt es viele, wenn es um die europäische Energiepolitik geht. Ein Beispiel dafür ist die geplante transkaspische „Nabucco“-Pipeline, die 2014 in die Geschichte einging. Die geplante Pipeline sollte Gas aus Aserbaidschan, Turkmenistan und dem Irak beziehen (und über die Türkei nach Europa gelangen) und war speziell dafür gedacht, eine übermäßige Abhängigkeit von russischem Gas zu vermeiden. Aus Gründen, die damals wichtig schienen (u. a. starker Widerstand der Umweltschützer), wurde die Leitung gestoppt, und Europa ist weiterhin zu über 50 % von Russland abhängig. Vereinfacht ausgedrückt sind wir der russischen Energie ausgeliefert, weil wir keine anderen brauchbaren Bezugsquellen haben, auf die wir uns verlassen könnten. Politiker unterschiedlicher Couleur sind sich in vielen Dingen uneins, aber sie sind sich normalerweise einig, dass es nicht gut ist, sich bei der Energieversorgung so vollständig auf eine ausländische Macht zu verlassen. Doch das ist die derzeitige Situation.

Das wirft die Frage auf, ob es klug war, Gas in Bezug auf die Dekarbonisierungsagenda genauso zu behandeln wie Öl und Kohle? Gas hat eine wesentlich bessere CO2-Bilanz und wurde dennoch in gleicher Weise blockiert und bekämpft wie Öl- und Kohleprojekte. Das Ergebnis sind begrenzte Gaslieferungen, steigende Preise, die Verlangsamung der CO2-Emissionsreduzierung, der derzeitige Zustand völliger Energieunsicherheit und jetzt eine Invasion. Diejenigen Ukrainer, die einer eher ungewissen Zukunft entgegensehen, mögen sich nun entscheiden, dem aktuellen europäischen Standpunkt zu widersprechen, dass der Klimawandel Leben und Lebensgrundlagen bedroht“. Das gilt auch für Kriege, und das gilt auch für den Mangel an billiger und konstanter Energie! Außerdem macht es natürlich keinen Sinn, die heimische Energieproduktion zu verringern, wenn wir das gleiche Produkt (Gas) einfach durch anderswo produzierte Lieferungen ersetzen. Es ist zu spät, die Frage zu stellen, aber wenn wir uns um unseren kurzfristigen Energiebedarf genauso gekümmert hätten wie um den langfristigen, wäre dann die derzeitige Krise in der Ukraine vermieden worden?